Im Semester 1973-74, „Die Unverbesserlichen“, besuchte Herbert R. Wilkes die Fachschule für Gartenbau in Wolbeck: „Ich war der Jüngste der Klasse. Es waren noch die alten Zeiten von Herrn Schulte-Scherlebeck, mediterraner Flair eingeschlossen. Eine schöne Zeit, kann ich rückblickend sagen“.
Entwicklungshelfer und Verwirklichung eines Lebenstraums
Schon vor der Fachschule hatte ich mich beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) beworben und hatte einen Vorvertrag, der nach Abschluß der Weiterbildung zum Gärtnermeister in Kraft trat. Es herrschten noch Kalter- und Vietnamkrieg, die Mauer stand noch unverrüttelbar. Ich war (und bin) aus Überzeugung Pazifist und deshalb kam ein Wehrdienst für mich nicht in Frage. So wollte ich durch zwei Jahre Arbeit als Entwicklungshelfer (EH) in Übersee den Dienst am Vaterland abgelten. Daraus sind zwischenzeitlich mehr als 30 Jahre geworden. Durch Josef Jungbauer, den ich sehr schätzte, bekam ich nach der Meisterprüfung im März 1974 eine Praktikantenstelle bei der Fa. Ahlers in Playa San Juan, Teneriffa. Das Stipendiatenprogramm der Landwirtschaftskammer Westfalen- Lippe hatte es mir nach der Lehre bereits ermöglicht, für ein halbes Jahr in Skandinavien Erfahrungen zu sammeln. Zurück aus Spanien wurde ich im letzten Trimester 1974 beim DED in Wächterbach im Spessart geschult und zu Neujahr 1975 begann ich meine Arbeit als EH im bolivianischen Gran Chaco, im Department Tarija, an der argentinischen Grenze. Dort arbeitete ich bis März 1981 als Berater mit Basisgenossenschaften von Kleinbauern zusammen.
Bolivien ist ein wunderbares Land, mit vielen Gegensätzen und allen Klimazonen und Bodenschätzen, die man sich vorstellen kann. Auf 1.098.000 Quadratkilometern leben um die 9 Mill. Menschen. Fast dreimal so groß wie die BRD und weniger Bevölkerung als NRW. Das schätze ich hier so sehr, daß man manchmal Stunden fährt, ohne jemandem zu begegnen. Man hat mehr Raum zur Verfügung – aber auch weniger Anlaufstellen – und muß dadurch bedingt wesentlich mehr Allgemeinwissen und Können haben, um zu improvisieren und weiterzukommen.
Bolivien ist auch ein Land mit vielen historischen Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und Verarmung der einheimischen indigenen Bevölkerung. Ich habe anfangs noch mehrere Jahre unter Militärregierungen gelebt und etliche Putsche live miterlebt. Dabei war der blutige Umsturz von Garcia Meza der Schlimmste. Die Zeiten sind vorbei und dieser Ex-General sitzt heute lebenslänglich im Gefängnis; Bolivien hat seit 24 Jahren mehr oder weniger stabile demokratische Regierungen und seit zwei Monaten einen indigenen Präsidenten, der mit 53% der Stimmen gewählt wurde.
Die Bevölkerung des Landes ist zu 68% indigen. Quechuas, Aimaras und Guaranies sind die größten Volksgruppen (pueblos indígenas). Dazu kommen aber noch um die 40 weitere Stämme, von denen einige nur noch um die 50 Personen zählen. Exotische Namen haben diese indigenen Völker: Pauserna Guarasugwe, Moxos, Chulupis, Baures, Eje Essia und viele andere mehr. Bolivien leidet noch heute unter dem Verlust des Pazifikzugangs mit der Provinz Litosi wurde vor einigen Jahren von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Land der Extreme
Unsere Kinder Friederich und Jerylee kamen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zur Welt. Claus und Demelza wurden Ende der Achtziger in Santa Cruz geboren. Zu dieser Zeit, und zwar zwischen 1987 und 1992, arbeitete ich in einem Ernährungssicherungsprojekt der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in den Höhenprovinzen von Arequipa, im Süden Perús. Arequipa ist eine der schönsten Kolonialstädte Südamerikas. Das Centrum und die Plaza Principal sind aus einem weißen Vulkantuff gebaut, der als Extrusivgestein weich und einfach zu bearbeiten ist. Die Stadt liegt auf 2300 münn in einer Flußoase, 100 km vom Meer entfernt, in der pazifischen Wüste. Man spricht hier vom ewigen Frühling und da ist was Wahres dran: 300 Sonnentage und 80 mm Niederschlag im Jahr. Hier wird ein hervorragender Knoblauch für den Export angebaut und die Peruanischen Paßpferde, Tölter, die hier Caballo Peruano de Paso heißen, kommen aus dieser Region. Arequipa ist die zweitgrößte Stadt des Landes und hat knapp eine Million Einwohner. Es gibt maximal vierstöckige Häuser, da es wegen der ständigen Erdbebengefahr nicht ratsam ist höher zu bauen. Arequipa liegt auf der tektonischen Verwerfung von San Andres (falla de San Andres), was täglich zu kleinen telurischen Stößen führt. Man gewöhnt sich irgendwann daran nachts die Schlafzimmertüren nicht mehr zu schließen und beim Anstehen in der Bank gleich nach den Sicherheitszonen zu schielen.
Der Süden Perus ist auch vom Menschenschlag her sehr angenehm. Man kommt schnell an die Einwohner heran und sie sind sehr gastfreundlich. Natürlich ist der Repräsentant eines EZ Projektes gern gesehen, ist er doch der Garant für den Einsatz von Fördergeldern in der jeweiligen Region. Nicht so schön war die ständige und allgegenwärtige Bedrohung durch den Leuchtenden Pfad (Sendero Luminoso), eine maoistisch orientierte Guerillabewegung, die auch in unserem Projektgebiet operierte. In Tomepampa, in der Provinz La Union, 400 km von Arequipa Stadt entfernt und an Apurimac, Ayacucho und Cusco grenzend, wurde unser Dorf zweimal brutal überfallen, mit Toten und zerstörten Häusern. In beiden Fällen wurde ich kurz vorher gewarnt und konnte meine Familie und auch andere (bedrohte) Menschen mit evakuieren. Der damalige Bürgermeister von Tomepampa und seine Familie sind mir dadurch bis heute sehr verbunden!
Ende 1992 stellte das BMZ jegliche staatliche Entwicklungszusammenarbeit in Perú aus Sicherheitsgründen ein. Damit wurden alle entsandten Experten im Dezember des gleichen Jahres abgezogen.
Zurück nach Bolivien quartierten wir uns in Yacuiba in unserem Häuschen ein. Ich hatte vor ein Sabbatjahr einzulegen. Allerdings war ich schon nach wenigen Wochen, im April 1993, wieder in der EZ tätig, diesmal als Koordinator eines Agroforstprogramms im Department Beni im Norden des Landes, welches Dienstleistungen in einem Projekt für Siedler aus dem Hochland durchführte.
Aus einem Engagement für zwei wurden diesmal sechs Jahre. Hier erarbeiteten wir mit 280 Familien Landnutzungsplanungen um die Parzellen mit nachhaltigen Bewirt-schaftungsformen zu bebauen. Auftraggeber war eine nationale NRO und mein Arbeitsplatz wurde über CIM (Centrum für Internationale Migration und Entwicklung) gesponsert. Rurrenabaque, was „Sitzende Ente“ in Tsiman bedeutet, war unser Projektstandort. In Rurrenabaque ergießt sich der Rio Beni aus dem Andenvorland in die Pampa Beniana, in das Amazonasbecken. Hier leben noch heute indigene Stämme in halbnomadischer Lebensweise. Wir arbeiteten konkret mit Tsimanes, Mosetenes und Tacanas zusammen, weil diese Stämme Winterlandwirtschaft auf den Flußsandbänken durchführen, welches für unser Programm sehr wichtig war. Vor allem Bohnen und Erdnuß gedeihen sehr gut auf den Schwemmlandböden, die nach der Regenzeit einige Meter hoch aus dem Flußbett ragen.
Um in den Norden des Landes zu gelangen müssen die Yungas (siehe Bild mit Irupana) durchquert werden. Das sind die nordöstlichen Andenabhänge, wo auf wenigen Straßenkilometern bis zu 4000 (vier tausend) Höhenmeter Unterschied bewältigt werden müssen.
Seit sieben Jahren (1999) arbeite ich wieder mit dem DED in Bolivien, auf der halben Strecke zwischen La Paz und Rurrenabaque, in der Beratung von Basisorganisationen in der nachhaltigen Agroforstwirtschaft. Die Region heißt Alto Beni und die Ortschaft Sapecho, bekannt durch den vorzüglichen Biokakao, der hier angebaut und zum großen Teil über die GEPA und Rapunzel in Deutschland vermarktet wird. Wir haben hier eine einfache Bewirtschaftungstechnik verfeinert, wie man ohne Brandrodung und Biomasseverlust schon mehrmals genutzte Flächen wieder erfolgreich bewirtschaften kann. So etwas nennen wir Analog forestry oder auf spanisch agroforesteria sucesional.
Mein Arbeitsplatz teilt sich zwischen La Paz und dem Alto Beni das Projektziel erreicht sein wird, nachhaltige Agroforstwirtschaft als Landnutzungsform zu etablieren.
Erfüllung eines Lebenstraumes
Im Jahre 1980 kauften meine Frau und ich ein Stück Land im bolivianischen Chaco, damals wertloses Buschland nahe der argentinischen Grenze. Nach einem Vierteljahrhundert Arbeit und Investition jedes verdienten Pesos ist der „Kotten“ (siehe Bild mit Mustangs) heute recht gut gediehen. Die Dimensionen sind schon etwas anders als im nordwestlichen Münsterland, dort wo ich an der holländischen Grenze aufgewachsen bin, ist es doch größer als mein gesamtes Heimatdorf. Hier betreiben wir Fleischrinder- und Pferdezucht, halten Ziegen und bewirtschaften das Land nach agroökologischen Grundsätzen: keine Pestizide, keine Brandrodung und minimale Mechanisierung. Es wurden Teiche und Wasserrückhaltedämme angelegt, die Jagd und das Fischen rigoros verboten und die Waldflächen zum Schutz eingezäunt. Heute haben wir es erreicht einer großen Zahl von bedrohten Tieren natürlichen Schutz zu geben. Und das allein schon lohnte die ganze Mühe.
Irgendwann in nächster Zeit wird dann das geplante Haus aus natürlichen Materialien auf der „Finca“ gebaut, damit der Altenteil allmählich und attraktiv vorbereitet wird. Dann hat man mehr Muße sich um die Bienen und Junghengste, die Karpfen und Ziegen zu kümmern. Glaube ich zumindest. Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. Noch kann der Altenteil ein wenig warten, gibt es doch noch viel zu tun um einigen der Einheimischen zu helfen, damit auch sie morgen ein würdigeres Leben führen können.
Herbert R. Wilkes aus Bolivien, MZ 1973/74